Universal Wisdom

Bede Griffiths

Universal Wisdom
Eine Reise durch die heilige Weisheit der Welt

(Auszug)

Übersetzt von Roland R. Ropers

Vorwort
Der Ursprung der Religion
Die vedische Mythologie
Die Weisheit der Upanischaden
Die Offenbarung des persönlichen Gottes
Die Herausforderung des Buddhismus
Der chinesische Weg
Der Monotheismus Indiens
Der semitische Monotheismus
Der Islam und die Lehren der Sufis
Jüdische Mystik – Die Kabbala
Die Heilige Dreifaltigkeit und der Leib Christi

Vorwort

Die Weltreligionen begegnen sich heute auf eine Weise, wie es noch nie zuvor der Fall gewesen ist. Jede Religion hat sich in einer für sie typischen kulturellen Umgebung entwickelt: der Hinduismus und Buddhismus in Indien, der Taoismus und Konfuzianismus in China, das Judentum und Christentum in Palästina, der Islam in Arabien. Doch im Lauf der Zeit unterlag auch jede Religion einem Wachstum und dehnte ihren Einfluss aus. Der Hinduismus blieb zwar weitgehend auf Indien beschränkt, doch die Begegnung der Arier aus dem Norden mit den Draviden und anderen Stämmen der Urbevölkerung führte zu einem kontinuierlichen Wachstum und einer Bereicherung ihrer Religion durch neue Inhalte, die ihr universellen Charakter gaben. In ähnlicher Weise führten die gegensätzlichen Traditionen des Taoismus und Konfuzianismus in China zur Entfaltung einer tiefen universellen Weisheit, die China in seiner Gesamtheit prägte. Der Buddhismus verbreitete sich, ausgehend von Indien, nach Sri Lanka, Burma, Thailand und Vietnam und griff dann mit der Entstehung der Mahayana-Lehre auf Tibet, Korea, China und Japan über. Der Ursprung des Judentums und Christentums lag in Palästina. Doch dehnte sich das Judentum in der „Diaspora“ über den Nahen Osten, Europa und Nordafrika aus und schließlich über die ganze Welt. Das Christentum breitete sich zunächst westwärts über das Römische Reich und ostwärts nach Syrien, Mesopotamien und Persien, ja bis Indien und China aus, während es im Westen zur herrschenden Religion Europas und Amerikas wurde. Der Islam trat, beginnend in seinem Ursprungsland Arabien, seinen Siegeszug westwärts durch Nordafrika bis nach Spanien und im Osten über Syrien, die Türkei und den Irak bis zum Iran, Indien und Indonesien an. Mit der geographischen Ausbreitung der Religionen nahmen auch ihre Lehren eine höchst ungewöhnliche Entwicklung. Die primitive Mythologie der Veden differenzierte sich in Gestalt des Yoga, Vedanta und Tantra in ein komplexes System der Mystik und Philosophie, der ethischen Verhaltensregeln und eines gewaltigen Komplexes ritueller Vorschriften aus.
Der Buddhismus, dessen Lehre ursprünglich auf die Erlösung des Individuums im Nirvana beschränkt war, entwickelte sich zur Mahayana-Lehre der universellen Erlösung: Der Bodhisattva legte ein Gelübde ab, nicht eher ins Nirvana einzutreten, als bis ein jedes lebende Geschöpf gerettet war. Im Judentum entstand in Gestalt des Talmud ein kompliziertes System von Gesetzesvorschriften und später, in der Kabbala, die erhabenste Mystik. Das Christentum baute unter dem Einfluss griechischer Philosophie und römischen Rechtes ein umfangreiches rituelles und Dogmensystem auf, das die Geschichte Europas und Amerikas bestimmen sollte und sich später auch auf die europäischen Kolonien in Asien und Afrika erstreckte. Der bemerkenswerteste Fall ist in mancher Hinsicht die Religion des Koran, die aufgrund ihrer Begegnung mit den Kulturen Syriens, Ägyptens, des Irak und Iran eine reich differenzierte eigene Kultur entwickelte und durch die Einschmelzung der Philosophie des Plato und Aristoteles eine Philosophie und Theologie eigener Prägung hervorbrachte.
Doch trotz dieser ungeheuren Expansion aller Religionen tritt erst heute das Phänomen auf, dass sich die religiösen Traditionen überall auf der Welt ungehindert durchdringen und Beziehungen zueinander aufnehmen, nicht im Sinne von Rivalität und Konflikt, sondern von Dialog und gegenseitiger Respektierung. Eines der größten Bedürfnisse der heutigen Menschheit ist, die kulturellen Grenzen der großen Religionen zu überschreiten und eine Weisheit, eine Philosophie zu entdecken, die die Völker miteinander versöhnt und die Einheit, die ihnen bei aller Unterschiedlichkeit zugrunde liegt, sichtbar macht. Diese Weisheit hat man die „Philosophia perennis“ (Ewige Philosophie) genannt, die unvergängliche Weisheit, die sich in jeder Religion auf jeweils andere Weise ausdrückt.
Die Philosophia perennis entstand in einer entscheidenden Periode der Menschheitsgeschichte Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus. Damals wurden die kulturellen Begrenzungen der alten Religionen erstmals durchbrochen, und eine letzte Wirklichkeit trat ins Bewusstsein der Menschen. Diese Wirklichkeit, die keinen ihr gemäßen Namen besitzen kann, da sie den Verstand übersteigt und sich in Worten nicht ausdrücken lässt, wurde im Hinduismus Brahman und Atman (der Geist) genannt, im Buddhismus Nirvana und Sunyata (die Leere), in China Tao (der Weg), in Griechenland das Sein (einai) und Jahwe (Ich bin) in Israel. Doch sind all das nur Worte, die auf ein unaussprechliches Geheimnis hinweisen, in dem der tiefste Sinn des Universums verborgen liegt, das aber kein menschliches Wort und kein menschlicher Gedanke ausdrücken kann. In diesem Geheimnis liegt das Ziel allen menschlichen Strebens, die Wahrheit, die alle Wissenschaft und Philosophie zu ergründen sucht, die Seligkeit, in der alle menschliche Liebe ihre Erfüllung findet.
Es war der Hinduismus – oder besser die in sich sehr differenzierte Religion, die später als Hinduismus bekannt wurde –, in der sich der erste große Durchbruch ereignete. In den um 600 v. Chr. entstandenen Upanischaden erfuhr die alte Religion, die auf dem Feueropfer (yajna) beruhte, eine tief greifende Umwandlung durch die Rishis (Seher), die sich zur Meditation in die Wälder zurückzogen. Ihnen kam es nicht auf das rituelle äußere Feuer, sondern auf das innere Feuer des Geistes (atman) an. Sie entdeckten, dass es sich bei dem alten Brahman, der im Opfer verborgenen Kraft, um die im Universum verborgene Kraft handelte, und der Geist des Menschen, der Atman, das innere Selbst, wurde als eins mit Brahman, dem Geist des Universums, erkannt. Etwas später verwarf Gautama Siddharta, der Buddha, sowohl die Mythologie als auch die Riten der Veden. Der Geist des Buddha durchdrang die erscheinenden Dinge, die er als vergänglich (anitta), leidvoll (dukka) in dem Sinne, dass sie keine dauernde Befriedigung schenkten, und unwirklich (anatta), also ohne Basis in der Realität, beschrieb, und gelangte zur unendlichen, ewigen, unveränderlichen Realität, die er Nirvana nannte. In China gelang es dem Verfasser des Tao Te King (dem „Buch vom Weg und seiner Kraft“), wie es auch entstanden sein mag, über die konventionelle philosophische Ethik des Konfuzius hinauszugehen und das namenlose Geheimnis zu entdecken, das er Tao nannte, die erhabene Quelle aller Weisheit und Ethik. In Griechenland gingen Sokrates und Plato weiter als alle bisherigen Philosophen, die den Ursprung der Welt in materieller Substanz, sei es Wasser, Luft, Feuer oder den vier Elementen gemeinsam, gesucht hatten, und erwachten zur Wirklichkeit des Geistes als der dem materiellen Universum und der menschlichen Persönlichkeit gemeinsamen Quelle. Schließlich offenbarten die hebräischen Propheten, in konsequenter Ablehnung der Götter der alten Welt, die Gegenwart eines transzendenten Wesens, dessen einziger Name „Ich bin“ war als die höchste Persönlichkeit, als Herr des Universums. So wurde in Indien, China, Griechenland und Palästina fast zur gleichen Zeit die letzte Realität, jenseits aller Veränderungen der Zeitlichkeit, für die Menschheit entdeckt.
Im Lauf der Jahrhunderte wurden diese grandiosen Einsichten von Philosophen und Theologen über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren zu großen Lehrsystemen ausgebaut. In Indien entwarf Shankara im 9. Jahrhundert n. Chr. das in sich geschlossene System des Vedanta, das sich dann bis zur Gegenwart in verschiedenen philosophischen Systemen entfaltete. Im Buddhismus schuf Nagarjuna, der Brahmanen-Philosoph aus Südindien, ein begriffliches System, das später die Grundlage für die Mahayana-Lehre Chinas und Tibets bilden sollte. In China entstand aus Taoismus und Konfuzianismus, die sich Jahrhunderte lang gegenseitig befruchteten, das neokonfuzianische System, das bis zum Auftreten des Marxismus vorherrschte. In Griechenland führte die neue Sichtweise des Sokrates und Plato zum Neoplatonismus des Plotin und übte entscheidenden Einfluss auf das entstehende Christentum und den Islam aus. Die griechischen Kirchenväter Clemens, Origenes und Gregor von Nyssa entwickelten, auf den mystischen Einsichten von Paulus und Johannes aufbauend, unter dem Einfluss des Neoplatonismus eine tief mystische Theologie, die sich in den großen mystischen Traditionen des Mittelalters fortsetzte. Schließlich erlebte auch in Israel und im Islam die Religion der Patriarchen und Propheten eine einschneidende Veränderung, als sie auf die Traditionen Griechenlands und des Orients traf.
In jeder Religion geschah es also, dass sich aus vergleichsweise einfachen Anfängen umfangreiche und komplexe philosophische Systeme entwickelten, die bei allen Unterschieden doch wesentliche Gemeinsamkeiten aufwiesen. Die allen diesen Systemen gemeinsame Philosophie, die in fast allen Teilen der Erde bis ins 15. Jahrhundert vorherrschte, wurde indessen in Europa im 16. Jahrhundert von einem neuen philosophischen System, beruhend auf den Ergebnissen der westlichen Wissenschaft, abgelöst. Doch heute beginnt sich diese Philosophie der westlichen Wissenschaft, infolge der neuen Entwicklungen der Wissenschaft, in Gestalt von Relativitätstheorie und Quantenphysik ihrerseits aufzulösen. Die Folge ist, dass der modernen Welt eine grundlegende Philosophie überhaupt, die dem Leben einen Sinn geben könnte, fehlt. Es besteht die Gefahr, dass die menschliche Existenz jede Bedeutung und jedes Ziel verliert. Nimmt man nun noch die Verwüstungen hinzu, die die westliche Technik auf unserem Planeten angerichtet hat und die unsere Umwelt, von der unsere Existenz abhängt, gänzlich zu zerstören drohen, liegt auf der Hand, dass, was die Menschheit heute am meisten braucht, eine Philosophie, eine universelle Weisheit ist, die die Menschheit einen und uns Kraft geben könnte, uns mit den von der westlichen Wissenschaft und Technik produzierten Problemen wirklich auseinanderzusetzen. Die Religionen der Welt als solche können dieses Bedürfnis nicht befriedigen, denn sie sind selbst zum Bestandteil des Problems der geteilten Welt geworden. Die einzelnen Weltreligionen – Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam – müssen die alte Weisheit, die ihnen überkommen ist, erst wieder entdecken. Und diese Weisheit muss heute im Licht der Erkenntnisse interpretiert werden, die uns die westliche Wissenschaft vermittelt hat.
[…] Die Menschen müssen sich heute daran gewöhnen, über die Heiligen Schriften aller Weltreligionen nachzudenken. Keine Religion darf mehr für sich allein stehen. Jede Religion hat eine lange geschichtliche Entwicklung hinter sich, und wir werden uns jetzt der Tatsache bewusst, dass sie zwar alle aufeinander bezogen sind, doch auch jede einzelne ihre eigene, spezifische Sicht auf die letzte Wahrheit und Wirklichkeit besitzt. Indem wir uns auf diese Texte besinnen, erweitern wir unseren Blick. Wir sehen dann unsere eigene Religion in einem neuen Licht und erkennen allmählich, wie die Menschen sich gegenseitig besser verstehen könnten, bis hin zu jener Einheit, die unser gemeinsames Ziel ist. Das erfordert einen gewissen Abstand von unserer eigenen Kultur und Religion, die Anerkennung der Tatsache, dass sich in jeder Religion auch ein Wandel vollzieht und vollzogen hat, und die Öffnung von Herz und Haupt für die transzendente Wahrheit, die sich in jeder ursprünglichen Religion offenbart. Gleichzeitig aber müssen wir auch auf die Änderungen Rücksicht nehmen, die die westliche Wissenschaft, sei es Physik, Biologie, Psychologie, Soziologie oder Metaphysik, mit sich gebracht hat. Allein die geduldige Besinnung auf die Texte der Philosophia perennis kann uns die Einsicht geben, die wir brauchen, und uns zeigen, welche Änderungen in unserem eigenen Leben stattfinden müssen. Nur dann können wir hoffen, die Einheit an den Wurzeln der Menschheit, unter allen Unterschieden der Oberfläche, zu verwirklichen und unsere Solidarität mit dem weiten Weltall wieder zu entdecken, das uns als unsere Heimat geschenkt wurde und für das wir verantwortlich sind.