Das Tor der Frau
Im Buch Tao Te Ching finden wir die rätselhaften Worte:
Der Geist dieses Tales stirbt nicht.
Nenne es das Geheimnis, die Frau.
Geheimnisvoll,
das Tor der Frau,
ist die Wurzel
der Erde und des Himmels.*
Zum zweiten Mal, lieber Leser, möchte ich Sie in die Welt der großen Religionen Südostasiens einladen. Ich möchte sie Ihnen zeigen durch das Prisma von Fotografien des Menschen im Angesicht des Heiligen und durch ausgewählte Texte aus den Büchern der Weisheit, die diese Religionen hervorgebracht haben.
Den Titel dieses Albums Universal Wisdom von der Weltreligionen habe ich dem Werk des englischen Bedediktiners Bede Griffiths entnommen. Es heißt Universal Wisdom. A journey through the Sacred Wisdom of the World und ist für mich – so wie auch schon beim ersten Album – eine schier unerschöpfliche Quelle geistiger und fotografischer Inspiration.
Laut Bede Griffiths erleben wir apokalyptische Zeiten, in denen alte Strukturen und die Welt so wie wir sie kannten in Auflösung begriffen sind und gleichzeitig die Wiedergeburt einer Welt, die von einem neuen Bewusstsein durchdrungen ist.
Dieses Bewusstsein, sagt Griffiths, muss wieder aus den Quellen der ewigen Weisheit schöpfen, die in den heiligen Texten der großen spirituellen Traditionen verborgen sind.
Die Kultstätten, die Rituale, die Körper, die Gesichter, die Hände – dies alles ist mein fotografischer Kommentar zu den Texten aus hinduistischen Upanishaden, aus buddhistischen Sutras, aus dem geheimnisvollen Tao Te Ching des Taoismus, aus den Suren des Korans und aus der mystischen Poesie der Sufis. Kommentar auch zu den Hymnen aus dem Guru Granth Sahib der Sikhs, zu den Auszügen aus jüdischen Wahrheitsbüchern und zu Gleichnissen aus dem Neuen Testament. Diese Texte als die Offenbarungen göttlicher Weisheit und als die Einblicke des menschlichen Geistes in diese Weisheit sollen uns an die wesentliche Einheit erinnern, die ihnen zugrunde liegt.
Während ich Menschen verschiedener Glaubensrichtungen fotografierte und der Geheimnisse ihres Glaubens teilhaftig wurde, entdeckte ich, dass dieses neue Bewusstsein solange nicht Raum greifen wird, wie sich an der dominanten Rolle der Männer und der untergeordneten Rolle der Frauen im religiösen Diskurs nichts ändert. In allen Religionen wird die Rolle der Frau durch kulturelle Prägung geschmälert. Im Bereich des Heiligen haben sich die Männer das Recht herausgenommen, das Tor zum Himmel zu sein.
Deshalb habe ich bei der Gestaltung von Universal Wisdom vor allem solche Fotos ausgewählt, die Frauen in den intimsten Augenblicken spiritueller Erfahrung zeigen – im inbrünstigen Gebet, in der Entrückung oder in dem Wunsch, sich mit dem Heiligen zu vereinen.
Es ist offensichtlich, dass patriarchalisch geprägte Religionen ihre Fähigkeit verlieren, Güte und Harmonie unter den Menschen zu stiften. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir uns nur durch das Tor der Frau auf die in allen Religionen bewahrten Werte besinnen können, wie sie auch heute noch in uns selbst zu entdecken sind: Kontemplation, Sinn für das Heilige, Achtung vor der einen Wahrheit und Liebe als letztem Mysterium.
Damit, wie das Tao Te Ching verkündet, „der Geist dieses Tales“ nicht stirbt, muss ein neues religiöses Bewusstsein, das aus dem Boden immerwährender Weisheit schöpft, für das Gesicht und das Herz der Frau den Platz zurückgewinnen, der ihr zusteht.
Andrzej Ziółkowski
* Ursula K. Le Guin, Lao Tzu, Tao Te Ching: A Book about the Way and the Power of the Way
** Bede Griffiths, The New Consciousness